Wer Göttingen von oben sehen will, geht entweder in die höchsten Etagen des Blauen Turms, Neuen Rathauses oder anderer Gebäude, die vielmehr durch ihre Funktion überzeugen als durch ihre Ästhetik. Der Nordturm von St. Johannis, der größten und ältesten Kirche Göttingens, kann beides: das Stadtbild verschönern und einen atemberaubenden Blick über die Stadt liefern. Wer die über 250 Stufen hinter sich gelassen hat, schaut in etwa 60 Metern Höhe auf 14 Jahrhunderte Stadtgeschichte.
Die genannte evangelische Kirche vereint viele Funktionen, im Mittelalter noch viel mehr als heute. Während sie heute als Zufluchtsort und Sammelpunkt für Gläubige dient, gab ihre älteste Glocke nach Fertigstellung im Jahr 1389 neben dem Ton auch die Uhrzeit an. Damals verabredete man sich stets „nach“ einer bestimmten Uhrzeit — denn um Punkt hat es ja gerade erst geläutet.
Außerdem brauchte es vor der Etablierung einer Feuerwehr im Jahr 1921 jemanden, der Feuer oder Feinde so schnell wie möglich ausmacht: Das gesamte Jahr über hauste ein Turmwächter über den Dächern der Stadt und blies das Horn, wenn er etwas gefunden hatte. Je eher ein Feuer entdeckt worden war, desto besser; bestanden nahezu alle Häuser aus Holz. Nur die Leute, die genügend Geld besaßen, konnten sich ein Haus aus Stein leisten: Sie waren „steinreich“.
Dass das Leben auf dem Turm nicht das leichteste war, ist leicht vorstellbar. Es hielt jedoch einige Studenten nicht davon ab, sich nach Auszug des letzten Turmwächters 1921 auch dort niederzulassen — und das ohne fließendes Wasser, sanitäre Anlagen oder einer Küche; dafür mietfrei und mit der Gesellschaft diverser Tauben, gelegentlichen Turmbesuchern und bis zu weiteren fünf Mitbewohnern. Bis zum Jahr 2001 lebten sie dort, bevor die Stadt es verbot.
Wer mehr über die Geschichten von St. Johannis wissen möchte, von der Brandstiftung bis zur ersten elektromagnetischen Telegrafenleitung, kann den Turm zur Führung jeden Samstag um 12 Uhr besuchen. Veranstaltungen außerhalb der Reihe können im Gemeindebüro angemeldet werden.